Aufwühlende Zeiten
Die letzten Monate haben vieles aufgewühlt und vieles ist in Bewegung. Manches hat sich verändert und manches kehrt jetzt wieder in die gewohnten Bahnen zurück.
Die zum Teil sehr aufwühlenden Prozesse haben an manchen Stellen das Skelett unserer gesellschaftlichen Systeme sichtbar werden lassen: die mehr oder weniger genutzte Infrastruktur der Strassen, Bahnen und Flughäfen; das vielbesungene und beachtete Gesundheitswesen; das in einem anderen Modus funktionierende Bildungswesen und vor allem die geschlossenen Geschäfte, die vielleicht den Muskelapparat des Skeletts bilden.
Und wie ging es den anderen Organen? Dem Herzen? Dem Hirn?
Selber genoss ich die Ruhe in der Stadt; die gesteigerte Aufmerksamkeit für den Gesang der Vögel und, trotz des enorm hohen Arbeitspensums, die Zeit, das eine oder andere Buch zu lesen.
Die aufwühlendste Lektüre war Rutger Bregmans „Im Grunde gut“. Der junge, holländische Historiker, der am WEF in Davos mit seinen Aussagen Aufmerksamkeit erregte und auch mal einem Fox-News-Moderator dessen Kritikunfähigkeit vorhält, hat mich sehr erfrischend aufgewirbelt und durchgelüftet.
In seiner unterhaltsamen Tour d’Horizon räumt er mit Meilensteinen der Sozialpsychologie auf, indem er diese als zum Teil äusserst manipulative Experimente entlarvt: Unter anderem müssen das Stanford Prison Experiment, die Broken-Windows-Theorie dran glauben und auch literarische Werke wie Lord of the Flies bekommen ihr Fett ab. Das lüftet das Gehirn ordentlich durch und wirbelt ein paar lieb gewonnene Eckpunkte des Denkens auf.
Dabei geht Bregman klar, kritisch mit sich selbst, aber auch liebevoll vor und zeigt klug auf, wie diese Erkenntnisse unser Menschenbild prägen; wie wir durch den Konsum von Nachrichten dieses Menschenbild nähren und dann: wie wir ein rationaleres und realistischeres Bild bekommen können. Damit hat er mein Herz berührt, gerade weil es die Verbindung zum Hirn macht. Seine persönliche Sicht ist dabei keineswegs romantisierend, sondern eigenständig rational und wissenschaftlichen Erkenntnissen verbunden. Er macht dies, indem er die erwähnten Experimente von der Schlacke ihrer politischen Vereinnahmungen befreit. Auch das war mir eine wohltuende Aufwühlung. Und so entstehen bei mir mit den Lockerungsmassnahmen frische Bilder und neue Erkenntnisse. So wird das Skelett meines eigenen Menschenbilds beweglicher, das Herz offener und der Horizont meines Hirns erweitert.
Ein Beitrag von Jean-Paul Munsch
Vorstandspräsident bso
ein kluges buch. gut geschrieben ein wenig salopp auch. lohnt sich sehr zu lesen
Tipp:
Das neue Bulletin „Existenz“, über das Leben in schwierigen Zeiten. Mit 17 Kurzbeiträgen zu der Corona-Pandemie aus unterschiedlichen sozialen und gesellschafts-politischen Perspektiven. Und mit eindrücklichen Kunstfotos zum Thema. Bezug im Shop von http://www.voegelekultur.ch