Breaking rules or breaking taboos?
Normalerweise bewege ich mich in Eins-zu-eins-Coachings in beruflichen Bereichen wie Selbstorganisation, Ressourcenmanagement und Führungsaspekte. Seit der Pandemie halten weitere Aspekte Einzug in Coachings. Wenn Themen wie Angst, Trauer, Trennung oder ähnliches sichtbar werden, frage ich mich: Breche ich gerade eine Regel oder ein Tabu?
Die Zeit während und nach der Pandemie hat unsere Lebensbereiche näher zusammengebracht und lassen sie miteinander verschwimmen. Ich beobachte, dass Klient:innen im Coaching wenig bis keinen Unterschied mehr machen, ob das Anliegen nun privater oder beruflicher Natur ist. Da sie aus räumlichen Gründen täglich in beiden Bereichen hantieren und jonglieren, liegt es nahe, dass Anliegen aus dem einen Bereich den anderen Bereich noch mehr als sonst beeinflussen und sich somit schwerer abgrenzen lassen. Sollen Diskussionen mit dem oder der Lebenspartner:in die Abgrenzung von Privat- und Berufsleben betreffend ausgeklammert werden und darf auch der Verlust eines lieben Menschen und der Umgang mit Trauer in Coachings einfliessen? Wie auch immer…
In diesem Blog will ich weniger Setting und Methoden in Coachings zu diesen Themen beleuchten, sondern zu einem Dialog über die innere Haltung von uns Coaches anregen. Einen bleibenden Eindruck sowie die Erkenntnis, dass ich mich in meiner Rolle als Coach im Grenzbereich bewege, hinterliess eine Klientin, als sie in Tränen ausbrach und mitten im Coaching vom Verlust ihres Hundes zu sprechen begann.
Sie entschuldigte sich dafür und wollte wieder zurück zum mitgebrachten Anliegen wechseln. Ich merkte, wie ich still wurde und blitzschnell eine Haltung in dieser Situation entwickelte: Trauer im Coaching behandeln? Darf ich das? Ich blickte auf die Klientin, die in sich gesunken und mit geschlossenen Augen versuchte, ihre Fassung wiederzufinden. Und so entschloss ich mich: «Erzählen Sie mir von Ihrem Hund, wenn Sie wollen. Es muss wundervoll gewesen sein, jahrelang einen treuen Begleiter an der Seite gehabt zu haben…» Aus dieser Coaching-Sitzung ging die Klientin mit einem Trauerritual heraus, weit entfernt vom eigentlichen Anliegen. Und ich…?
Grenzbereiche im Coaching: Wo ich früher doch eher zögerlich handelte, sehe ich heute eine förderungswürdige Kompetenz für Coaches. Die Grenzen der Lebensbereiche unserer Klient:innen verschwimmen und so werden aus Anliegen Lebensfragen. Aufgrund der Verschmelzung der Lebensbereiche seit der Pandemie ist es als Coach aktueller denn je, den Menschen gesamthaft zu sehen, zu erfassen und zu begleiten. Als Coach will ich die Kompetenz entwickeln, mich in Fragen von Trauer, Angst und Trauma bewegen zu können – nicht nebenbei und am Rande erwähnt, sondern gekonnt damit umzugehen, das ist mein Anspruch an mich als Coach.
Vielleicht breche ich damit in der Coaching-Community ein Tabu. Ich will aber auch Regeln dafür entwickeln und frage euch: Wie wollen wir unsere Klient:innen begleiten, wenn Trauer, Angst und Wut eine starke Präsenz im Setting entfalten? Wie weit darf unsere Arbeit reichen? Welche Kompetenzen brauchen wir als Coaches dafür?
Schreibt uns: Jede Meinung, jede Erfahrung zählt. Je nach Respons lassen sich vielleicht in einem zweiten Schritt weitere Formate finden, in denen wir uns austauschen können.
Angela Taverna, September 2022.
Buchtipp zum Thema:
Schlott, Isa: «Coaching im Grenzbereich», 2022, Junfermann Verlag, Paderborn.
ISBN-Nr: 978-3-7495-0350-6
Guten Tag Angela
Du sprichst mir aus der Seele. Als Verantwortlicher zum Aufbau eines Stabilisierungscoaching für den Kt Bern, heutiger Stv Leiter und aber vielmehr als praktizierender Coach bin ich mit Team fast jeden Tag mit Themen wie Verlust, Trauer, Angst, Orientierungs-Perspektivelosigkeit „konfrontiert“. Du bringst damit also ein wichtiges Thema auf, innerhalb unseres Teams wird dies durchaus auch kontrovers diskutiert. Gerade weil die Grenzen fliessend sind, ist es umso wichtiger ein Sensorium für gewisse Parameter die auf „Gefahrenzonen „ hinweisen, zu haben. Aus unserer Sicht gibt es die durchaus, sie sind dabei aber zu diskutieren und vor allem beim Einzelnen zu implementieren. Die Haltung ist hier mitentscheidend.
Hallo Angela, und herzlichen Dank für deine aufrichtige Schilderung einer Coaching-Situation im Grenzbereich und die Aufnahme dieses wichtigen Themas!
Ich glaube, dass wir Coaches uns mehr denn je im Grenzbereich bewegen. Ich würde dies aber nicht nur der Pandemie zuschreiben wollen, sondern glaube, dass unsere westliche Gesellschaft sich zunehmend entgrenzt, und eine Unterscheidung zwischen privatem und beruflichem Erleben immer anspruchsvoller wird. Dies ist erkennbar am steigenden Anspruch von Organisationen UND Arbeitnehmenden, sich ganzheitlich in einen „gestaltenden“, partizipativen Arbeitsprozess einzubringen.
Grundsätzlich glaube ich, dass wir als Coaches im Moment einer akuten Krise als Menschen dazu verpflichtet sind, anderen Menschen Unterstützung anzubieten. Wer z.B. mit integrativen Verfahren arbeitet, erlebt öfter, dass der rein berufliche Kontext verlassen wird – wie könnten wir sonst ganzheitliche Sichtweisen erlangen? Wenn dies eine unerwartet aufkommende Trauer, Wut oder Ohnmacht ist, sollten wir in diesem Moment zur Verfügung stehen, sofern wir uns noch in der Lage fühlen, diese gemeinsam mit dem Klienten zu tragen – ganz so, wie du es beschrieben hast! Natürlich kann dann sein, dass anschliessend eine Weiterverweisung stattfinden sollte oder muss.
Ich finde das Thema sehr wichtig und freue mich über weitere Perspektiven und Erfahrungen dazu!
Liebe Angela
Vielen Dank für deinen wertvollen Beitrag. Deine Buchempfehlung habe ich mir soeben bestellt.
Als Job Coach begleite ich oft Coachees/Klienten, welche nach einem Burnout oder einer anderen herausfordernden und belastenden Situation wieder in den ersten Arbeitsmarkt möchten.
Bei diesen Coachings ist der Grenzbereich oft tangiert und ich spüre, dass sehr viele Coachees/Klienten dies sehr schätzen, wenn es sich in meinen Coachings nicht lediglich um „technisches“ Job Coaching handelt sondern um ein systematisches Coaching, bei welchem der Grenzbereiche miteinbezogen wird.
Bei mir brichst du kein Tabu sondern triffst eher auf die Regel.
Liebe Grüsse – Andreas
Liebe Angela
Danke für deinen Beitrag. Ich erlebe dieses Verschmelzen beinahe schon als Regel (schliesslich haben wir ein grosses Leben, dass sich in allen Bereichen zeigt, finde ich). Ich selber habe eine Psychotherapieausbildung vor meiner Coaching- und Beraterausbildung gemacht, was mir einerseits die Sicherheit gibt, „bereit“ zu sein für was immer auftaucht; andererseits finde ich es wichtig, für Klienten einen allfälligen Übergang in persönliche, biografische usw. Themen klar zu benennen und ihn auch nur mit dem expliziten Einverständnis der Gegenübers zu vollziehen.
Und von wegen Tabubruch: ich frage mich manchmal, ob die Coachingdisziplin ein Versuch ist, etwas „herauszudifferenzieren“, was alleine zu oft gar nicht reicht, und ob es da mal ein „zurückschwingen“ gibt – natürlich mit allem Respekt gegenüber ganz viel hervorragender Arbeit, die von Coaches erbracht wird.