Falsche Bescheidenheit
Das Sommerloch wurde in einigen Tageszeitungen kürzlich mit einer Studie gefüllt, die bereits im Januar dieses Jahres erschienen war. Die im «Journal of Personality and Social Psychology» publizierte Forschungsarbeit, war schlagwortartig, wie für Tageszeitungen üblich, im Titel mit «Bescheidenheit macht Feinde» zusammengefasst. Neugierig geworden las ich weiter und erfuhr, dass sich unbeliebt mache, wer sein Licht unter den Scheffel stellt und seine Erfolge verschweigt.
Wir scheuen uns jedoch meist, mit unseren Erfolgen zu hausieren, weil wir keinen Keil zwischen uns selber und den Mitmenschen treiben wollen. Die Angst, damit Missgunst und Neid zu ernten, spielt da hinein.
Interessant sind die Erkenntnisse von Annabelle Roberts, Emma Levine und Ovul Sezer, unter anderem deswegen, weil sie zeigen, dass das Geheimhalten von Erfolgen die Beziehung zu unseren Mitmenschen schwächt, und zwar unabhängig davon, ob der Erfolg geheim bleibt oder später entdeckt wird! — Und obwohl die Angst, dass das Gegenüber neidisch wird oder man angeberisch wirkt, vordergründig da ist, steckt etwas anderes dahinter. Der entscheidende Punkte ist die mit dem Zurückhalten verbundene Bevormundung des Gegenübers. — Dies beeinträchtigt die Beziehung! Weil wir dann von oben herab zu wissen meinen, was für den anderen gut ist, indem wir etwas nicht erzählen.
Und dass auch in der Beratung die Beziehung entscheidend ist, ist mit den Metaanalysen von Klaus Grawe längst belegt. Aber vielleicht ist es gut, daran zu erinnern, dass die in der Schweiz kulturell stark verankerte Zurückhaltung und Bescheidenheit also nicht unbedingt beziehungsstärkend wirkt.
Es geht also weder um das Hinter-dem-Berg-halten von Erreichtem, noch um prahlerisches Angebertum. Es geht aber auch nicht um den uns gut vertrauten Kompromiss, sondern vielleicht eher um ein selbstloses Selbstbewusstsein.
Wenn nun diese paradoxe Formulierung des «Selbstlosen Selbstbewusstseins» einen kognitiven Konflikt auslöst, dann ist dies durchaus beabsichtigt: Gehört doch der kreative Umgang mit Paradoxien und Widersprüchen zum beraterischen Instrumentarium …
Vielleicht geht es dann eben darum: Hinauszugehen in die Welt und uneitel von Erfolgen zu berichten; bescheiden gemeinsam das Erreichte zu feiern und Freundinnen und Freunden demütig selbstbewusst zu zeigen, dass Unbescheidenheit, Freunde machen kann.
Ein Beitrag von Jean-Paul Munsch
Vorstandspräsident bso
Es streitet in mir dieser Text und regt mich zur differenzierten Betrachtung an. „Falsche“ Bescheidenheit, was heisst das und wann ist Bescheidenheit tatsächlich unangemessen? Kommt es nicht wieder einmal auf die eigene Beratungs-Haltung in der Rolle an? Und die Beratungs-Phase in der eigene Erfolge und Erfahrungen tatsächlich einen Mehrwert für den Klienten bieten kann?
Zu Beginn eines Prozesses halte ich mich als Beraterin tatsächlich zurück, weil es meine Aufgabe ist möglichst viele Informationen vom Klienten zu erhalten und auf meine innere Resonanz des Mitgeteilten zu hören, was ich ja dann auch zu einem späteren Zeitpunkt widerspiegle. Meistens nach einem Recontracting (Klärung, Differenzierung, meist auch Tiefung) folgt ja bekanntlich das vertrauensvolle Arbeiten und ab da macht es für mich absolut Sinn, falls die Beziehung symmetrisch ist, dass ich meine Sichtweise zur Verfügung stelle, damit es auch mit dialogischen Methoden beim Klienten zu einer inhaltlichen Schärfung kommen kann. Ich frage meistens, ob Klient*in meinen Gedanken, die Erfahrung und Expertise hören will. Meine innere Alarmglocke leuchtet auf, falls sich Berater*innen aus der Symmetrie der Beziehung in eine Expertisen-Haltung versteigen und meinen, dass sie wissen, was richtig und falsch ist für den Klienten.
Ich kann nur sagen, bei mir trifft das SO nicht zu, und ich bin nicht erfolglos. Eine etwas differenziertere Betrachtungsweise wäre mir lieber. Etwas vom wichtigsten für mich ist, authentisch zu sein – mit wachsamer Sorgfalt – und dem notwendigen Wissen und genügend Selbstreflexion für die Beratertätigkeit im Rucksack . rita schmid