Macht im virtuellen Raum
Wie sich die Verhältnisse bei virtuellen Treffen verändern können, haben viele von uns im vergangenen Jahr erfahren: Technische Probleme, aggressives Verhalten, aber auch gegenseitige Unterstützung inklusive! — Und wie sieht es mit den Machtverhältnissen aus? Sind die Zeichen der Macht die gleichen geblieben oder wie haben sich diese verändert? Geht es immer noch darum, dass der oder die Mächtigste am Längsten spricht? Und wie ist es mit der Sitzordnung und der Körpersprache, die für alle auf eine gleichgrosse Kachel geschrumpft ist?
Einige bekannte Machtinsignien sind im virtuellen Raum verschwunden
Es gibt keine Sitzordnung mehr, die anzeigt, wer die machtvollste Person im Raum ist und am Kopf des Tisches sitzt. Auch der Blick zur Tür ist nicht mehr möglich. Und wer das letzte Guetzli nimmt, hat sich auch erübrigt.
Zudem sind die Gestik und die Körpersprache stark eingeschränkt und können insbesondere in Gruppen- und Teamsettings nicht mehr gezielt wirken. Wem gilt eine wegwerfende Handbewegung? Keine Hand kann auf die Schulter des anderen gelegt werden. All diese wegfallenden Faktoren können zudem Stressoren sein und einer der Faktoren sein, die zur sogenannten Zoom-Fatigue führen können.
Da in virtuellen Settings der visuelle Kanal und die Stimme dominant sind, kommt diesen beiden Kanälen eine erhöhte Aufmerksamkeit zu. Das heisst, dass einerseits dem Lesen von Emotionen auf den Gesichtern erhöhte Bedeutung zukommt. Anderseits ist der zum Teil verzögerten Übertragung des Tons beachten zu schenken, damit sich Leute nicht ins Wort fallen. In grösseren Settings ist der Gastgeber, der Host, der alle zuhörenden Personen stummschalten kann. So mutiert der Host zur machtvollsten Person …
Als Supervisor:in oder Moderator:in einer Gruppe gilt es die Macht, die über die Rolle eingeschrieben ist, expliziter als in Präsenz zu machen und erfordert meist verstärkte und zum Teil schnellere Interventionen; auch weil gruppendynamische Prozesse online schwieriger wahrnehmbar sind. (Dies hängt u.a. damit zusammen, dass die Teilnehmenden gleichzeitig Chat-Kanäle für die Kommunikation untereinander nutzen.)
So ist ratsam umgehender Feedback einzuholen; Gesichtsausdrücke zu verbalisieren, aber auch Vertraulichkeit klar einzufordern (keine Mithörenden; keine Mitschnitte).
Auch wenn der virtuelle Raum als eine Wand von gleichgrossen Kacheln erscheint, bleiben trotzdem ein hoher Redeanteil (und die Möglichkeit, andere stummzuschalten) oder andere zu unterbrechen als Zeichen der Macht. — Schlechte Technik; verzerrte Stimme, falsche Kameraeinstellung und schlechte Ausleuchtung verringern den Status
Der Hintergrund auf der Kachel wir zum neuen Kontext
Ganz nach dem Motto: «Ich bin auch meine Umgebung.» Es lohnt sich also bei Gelegenheit mal zu überprüfen, was auf meinem Bildschirm von mir sichtbar ist; wie ich mich zeige; wie Vorder- und Hintergrund gestaltet sind; wie gross der Kopf ist und sich Feedback einzuholen, was der Gesamteindruck ist und wie das neue Ganze wirkt. So nutze ich gerne einen neutralen Hintergrund, um in einer Konfliktmoderation die Allparteilichkeit zu unterstützen; ich achte darauf, dass mein Gesicht gut ausgeleuchtet ist und genug gross erscheint.
Die Reflexion der Machtverhältnisse macht die Macht verhandelbar
Die Machtverhältnisse in einer Gruppe lassen sich online ebenso gut erforschen wie in Präsenz. Über ein kollaboratives Tool (miro, padlet, u.a.) können sich die Leute zu einem hin Machtzentrum positionieren. Die anschliessende Diskussion ist meist sehr interessant, wenn die Gruppe in einem Aushandlungsprozess die Machtverhältnisse ausbalanciert. So kann nach der Funktion einer Verhaltensweise gefragt werden. Was hält das (Macht-)System aufrecht? Welche Machtspiele spielen wir?
Welche Merkmale für Machtzuwachs sorgen, kann ebenfalls vorgängig online erarbeitet werden. Auch das ist ein spannender Prozess, der online möglich ist.
Ein Beitrag von Jean-Paul Munsch
Vorstandspräsident bso