Supervision im europäischen Kontext nach dem 24. Februar 2022
Der europäische Dachverband für Supervision und Coaching, die ANSE hat die nationalen Verbände angefragt, ob sie ihre Sicht auf das Statement des russischen Berufsverbandes abzugeben bereit seien. Der Hintergrund ist die schwierige Situation, die durch die verschiedenen Perspektiven auf Putins Krieg gegen die Ukraine entstanden ist. Schwierig ist diese Situation, weil sie uns alle herausfordert. Herausfordernd ist die Situation auch, weil sie uns scheinbar zwingt, Stellung zu beziehen und uns für eine Position zu entscheiden. Kann sich Supervision und Coaching angesichts der eklatanten Verletzung des Völker- und der Menschenrechte auf einen wie auch immer definierten Kernauftrag beschränken und das grössere Bild ausblenden? — Ich weiss es nicht, und will darum, und trotz der Sprunghaftigkeit der Gedanken, hoffentlich klar, antworten.
Diese Woche habe ich geträumt, dass ich mit Freunden auf einer Expedition bin. Wir kommen an Weggabelungen an denen entschieden wird, in welche Richtung es weitergeht. Am Schluss des Traumes bin in Häuserschluchten, die mir Schutz vor Bombenangriffen bieten. Trotz des Schutzes fühle ich mich nicht sicher. Und das Merkwürdigste fällt mir erst auf, als ich aus dem Traum erwache und diesen meiner Frau erzähle: Obwohl ich mich unsicher fühle, habe ich keine Angst.
Die Menschen in der Ukraine durchleben schreckliche Ängste. Obwohl uns die Nachrichten aus der Ukraine ebenfalls ängstigen und verunsichern können, brauchen wir in der Schweiz keine Angst zu haben. Wir leben in Frieden.
Unser Mitgefühl ist bei den notleidenden Menschen und unseren Berufkolleg:innen in der Ukraine.
In unseren Supervisionen ist der Krieg ebenfalls ein Thema. Supervisand:innen kommen mit ihren persönlichen Geschichten in die Supervision. Eine Supervisandin erzählte, dass ihre 11-jährige Tochter sie gefragt hat, wie sie sich entscheiden würde, wenn sie zwischen Ausharren mit der ganzen Familie und Flucht (und dem Zurücklassen des Vaters) entscheiden müsste. Wo bleibt da die Hoffnung? Das war ihre Frage.
Die Erschütterung und der Schock über die anhaltenden Gewalttaten und die Zerstörungswut auf europäischem Boden sitzt nach wie vor tief. Wir ahnen, dass uns die Ereignisse in der Ukraine nachhaltig betreffen werden, sei es politisch, persönlich oder kulturell.
Als Supervisor:innen arbeiten wir immer auch daran, systemische Zusammenhänge sichtbar zu machen; Perspektivenübernahmen zu ermöglichen und Handlungsoptionen zu entwickeln. Wie kann Unterstützung für alle in der jetzigen Situation aussehen? Viele Menschen in der Schweiz haben Bekannt- und Freundschaften in der Ukraine und in Russland. Wie kann da Empathie und Mitgefühl entstehen?
Die geografische Nähe zum Konflikt macht es beinahe leichter. Die Möglichkeiten, praktische Hilfe zu leisten, sind da. Der bso schaut dankbar nach Österreich und zu unseren Kolleg:innen der ÖVS, die ein Spendenkonto eingerichtet haben. Stand 21. März 2022 wurden 40.493,58 EUR auf das Konto einbezahlt. Das Geld wird dringend gebraucht und wird direkt für das Beschaffen und den Transport von Medikamenten und anderen Hilfsgütern eingesetzt.
Wir machen uns kaum eine Vorstellung davon, was es heisst, im Bombenhagel des Kriegs zu leben; wir machen uns auch kaum eine Vorstellung davon, was es heisst, in einer Diktatur zu leben, die demokratisches Zusammenleben in Frieden und die Offenheit einer Zivilgesellschaft verunmöglicht. Dass Kritik am Krieg gegen die Ukraine in Russland mit Hochverrat gleichgestellt wird, zeigt exemplarisch das Ausmass der Unterdrückung von Russlands Bevölkerung. Wir machen uns auf einer weiteren Seite auch kaum eine Vorstellung davon, was es heisst, wenn das Auto gepackt und vollgetankt zur Flucht bereitsteht, wie es für die Kolleg:innen im Baltikum der Fall ist, die ebenfalls Teil unserer europäischen Gemeinschaft sind.
Wohin wir den Blick auch wenden, sei es nach aussen oder nach innen; und was immer wir auch für die Linderung der Not tun: Es ist hilfreich, weil wir als Supervisor:innen, Coaches und Organisationsberater:innen auch Brückenbauer sind, Unrecht benennen, gemeinsam helfende Beziehungen schaffen, um einen Beitrag zum Frieden in der Welt zu leisten.
Ein Beitrag von Jean-Paul Munsch