Coaching als Freiraum für Kreativität
Coaching ist und war immer schon ein Freiraum, um Innezuhalten, für Reflexion und Neuausrichtung. Führungskräfte kommen ins Coaching, weil sie unter Druck stehen, weil sie nicht mehr weiterwissen, oft auch, weil sie einsam sind und niemanden haben, mit dem sie auf Augenhöhe und offen sprechen können. Der Freiraum, den Coaching bietet, wird oft genutzt, um anstehende Fragestellungen und Herausforderungen der täglichen, taktischen oder strategischen Führungsarbeit zielführender beantworten und anschliessend praktisch umsetzen zu können. Und immer wieder geht es dabei auch um die Positionierung des Coachees, manchmal ums Überleben im Betrieb oder des Betriebs selbst. Wer mit Überlebensfragen beschäftigt ist, wechselt meist in den Überlebensmodus und hat meist nur noch bedingt Zugriff auf seine Kompetenzen und sein eigenes Lernen, geschweige denn seine Entwicklung (vgl. Bock1).
Der Aktionsforscher und Entwickler der Theorie U, Claus Otto Scharmer hat darauf hingewiesen, dass der blinde Fleck von Führungskräften den Ort bezeichnet, von dem aus sie handeln (vgl. Scharmer2). Damit meinte er, dass es für unser Handeln entscheidend ist, wo wir innerlich stehen bzw. was unsere innere Position ist. Das heisst, wie wir menschliche, organisationale und gesellschaftliche Entwicklung und uns selbst verstehen. Entwicklungen sind vor dem Hintergrund einer dreifachen Spaltung zu sehen: der ökonomischen, spirituellen und ökologischen Spaltung. Damit sind die folgenden drei Themen adressiert, die uns alle letztlich in jeder Lebenssituation, und damit auch im Coaching und als Coach, betreffen: Die gesellschaftliche Ungleichheit zwischen immer weniger Superreichen und immer mehr Armen wächst (vgl. Piketty3). Die arbeits- und zivilisationsbedingten Krankheiten, wie Depressionen, aber auch Suizide und Einsamkeit nehmen zu (vgl. Bauer4). Und die ökologische Spaltung erleben wir immer hautnaher und eindrücklicher als globales Phänomen der Klimakrise.
Diese Herausforderungen können wir nur gemeinsam bewältigen. Und die Bewältigung dieser Herausforderungen erfordert auch für uns Coaches das Erhellen des eigenen blinden Flecks. Von welchem inneren Ort heraus agieren wir? Sind wir unreflektierte Dienstleister für alle Anfragen zur Effizienzsteigerung von dysfunktional gewordenen Systemen? Sind wir hilflose Helfer und Zuschauer von machtgetriebenen Prozessen? Befördern wir mit unserem Handeln alte Überlebensmuster, die immer mehr zu kurzfristigeren Reaktionsmustern der Angst werden?
Oder versuchen wir Kompetenz- und Entwicklungsmuster aufzubauen, die uns helfen, uns selber und unseren Lernprozess besser zu verstehen und im Austausch mit anderen Lernenden und sich weiter Entwickelnden vernetzt zu sein? Da braucht es manchmal nicht viel. Ein guter Freund, eine gute Zuhörerin, ein achtsamer Coach, der einem ein Tor für eine neue Idee öffnet, der einem bei der Umsetzung eines Experiments hilft.
Es braucht deshalb auch nicht viel Weitsicht, um zu verstehen, dass wir, um all diese Krisen bewältigen zu können, Kreativität brauchen. Und Kreativität braucht Freiraum. Ein Freiraum, den Coaching bieten kann.
Da stellt sich die Frage, von welchem inneren Ort der Coach selber agiert. Welche Situation kreïeren wir als Coach in unserem Coachingraum? Welche Strukturen, Prozesse und Methoden ermöglichen ein Eintauchen in eine persönliche Tiefe, die die oben skizzierte, globale Situation mitaufnimmt? Welche Beziehungs- und Interaktionskompetenzen bringen wir als Coaches mit, um sinnvolle Wirkungen zu erzielen und kreatives Schaffen zu befördern? (vgl. Munsch5)
Dieser innere Ort der Kreativität ist ein Raum der Stille, aus dem Neues geschehen kann. Nicht nur Achtsamkeitslehren und Meditationstechniken lehren uns das. Diesen Raum der Kreativität zu schaffen, ist möglich, wenn sich der Coach bewusst ist und sich traut, diese Stille bei sich selbst mehr zuzulassen und von einem stilleren Ort her zu handeln.
Ein Beitrag von Jean-Paul Munsch
Präsident bso
Literatur
1 Bock, P. (2020): Der entstörte Mensch. Wie wir uns und die Welt verändern. München: Droemer.
2 Scharmer, C. O. (2009): Theorie U. Von der Zukunft her führen. Carl-Auer: Heidelberg.
3 Piketty, Th. (2020): Das Kapital im 21. Jahrhundert. Beck: München.
4 Bauer, J. (2019): Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz. Blessing: München.
5 Munsch, J.-P. (2021): Verantwortung übernehmen und Orientierung schaffen. Jetzt die Schule der Zukunft gestalten. Literareon im Utzverlag: München.