Reflexion zum Thema «Ethik & Moral»
Der bso hat 2019 das Thema Ethik im Rahmen seiner Ethikrichtlinien aufgearbeitet. Darauf sollte im Jahr 2020 eine Fachtagung folgen, die aufgrund der Corona-Pandemie auf November 2021 verschoben wurde (wir haben im Newsletter bso im November darüber berichtet). Im Zusammenhang mit der Pandemie und den Massnahmen, bzw. mit Fragen, wer diese festlegt, wie die Regierung mit dieser Krise umgeht, was es für die Gesellschaft und auch für die Beratung bedeutet, ist das «Mauerblümchen Ethik» plötzlich ins Rampenlicht getreten.
Was als «Einladung des bso zur Reflexion über Ethik» seinen Ursprung hatte, fand in der Pandemie einen komplexen Praxisfall vor. So ist auch aus Mitgliederkreisen der Wunsch nach Plattformen für Reflexion und Diskurs aufgetaucht. Die Ethiktagung vom 4. und 5. November 2021 war eine solche Plattform. Ein weiteres Forum, weniger an Zeit und Ort gebunden, ist der Blog bso, der die Beratungscommunity zum Austausch einlädt. Zudem nutzen Mitglieder ihre jeweilige Intervisionsgruppe, um die Bedeutung der Corona-Massnahmen für die unterschiedlichsten Beratungssettings und ihre konkreten Fragestellungen zu besprechen.
Es ist nicht mehr zu überhören, dass der Umgang mit der Corona-Situation in der Gesellschaft polarisiert, auch wenn sich eine Mehrheit der Bevölkerung an der Urne kürzlich für eine aktualisierte COVID-Gesetzgebung ausgesprochen hat. Fragestellungen rund um Ethik, Moral, Rechte und Pflichten nehmen zentrale Rollen ein.
Der bso lädt ausdrücklich zu Reflexion und zum Diskurs ein und bietet dafür auch Plattformen an. Denn es ist gleichzeitig sowohl ein Kernanliegen des bso als auch der Königsweg für Informationssammlung, Meinungsbildung, Problemlösung und Entscheidungsfindung – im weitesten Sinne für Lernen, Entwicklung und Veränderung.
Manchmal ist es sinnvoll – und konstruktiver –, sich einem Anliegen anhand eines von akuten Situationen losgelösten Beispiels anzunähern, um unterschiedliche Sichtweisen zu diskutieren – und zu verstehen – sowie die eigene Position zu klären und unterschiedliche Haltungen und Meinungen zu respektieren. Die folgende Fallvignette könnte dazu einladen:
Eine Verkehrssituation
In einem Strassenabschnitt knapp ausserhalb des Ortsschilds und damit ursprünglich in der Tempo 80-Zone, an der vor vielen Jahren ein Fahrradfahrer von einem Auto erfasst und tödlich verletzt wurde, hatte das Amt für Verkehr eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Tempo 60 eingeführt. Ein paar Jahre später rannte wenige Meter neben dieser Unfallstelle ein Kind, das mit seiner Grossmutter auf dem separaten, parallel zur Strasse verlaufenden Gehweg (durch einen Grünstreifen von der Strasse getrennt) spazieren ging, seinem Ball nach auf die Strasse und wurde von einem Auto, das mit Tempo 53 unterwegs war, aber nicht mehr bremsen konnte, angefahren; es verbringt den Rest seines Lebens im Rollstuhl. Auf dem Grünstreifen wurde ein Maschendrahtzaun erstellt, sodass künftig weder Bälle noch Menschen oder Tiere ungehindert auf die Strasse geraten können. Wegen Verkehrs- und Fussgängeraufkommens zum nahegelegenen Einkaufszentrum wurde kürzlich noch ein Fussgängerstreifen mit Ampel erstellt, um den Verkehr zu regulieren und Unfälle zu vermeiden.
An diesem Fussgängerstreifen steht heute kurz nach 19:00h ein 49jähriger Fussgänger mit offenen Sinnen und möchte die Strasse überqueren. Er ist weit und breit alleine, es sind keine anderen Verkehrsteilnehmer:innen zu sehen, aber die Ampel steht auf Rot. Der Fussgänger schaut sich um, fasst sich ein Herz und überquert die Strasse bei Rot. Kaum erreicht er die Strassenmitte, kommt ganz zufällig eine Polizistin um die Ecke, erblickt ihn, hält ihn an und stellt ihm eine Busse wegen «Nichtbeachtung von Verkehrsregeln» aus.
Der Fussgänger versucht, sich charmant herauszureden: es sei doch absolut sicher gewesen und hätte niemanden gefährdet. Die Polizistin lässt sich nicht erweichen und streckt ihm den Bussenzettel entgegen. Er verwehrt ihn und bezieht sich auf sein «Menschenrecht», sich als mündige Person frei bewegen zu dürfen, sofern er niemand anderen gefährde; insbesondere, wenn er auch noch die volle Verantwortung für sich selbst übernehme. Die Polizistin interessiert das nicht, sie bezieht sich auf die eindeutigen Verkehrsregeln, dass die Überquerung einer Strasse bei Rotlicht verboten und strafbar ist. Sie steckt den Bussenzettel ein und kündigt an, ihm diesen per eingeschriebenen Brief zuzustellen.
Reflexionsfragen
- Wie beurteilen Sie diese Verkehrssituation?
- Welche Verhaltensweisen der Beteiligten (Fussgänger, Polizistin) könnten in dieser Situation aus welchen Gründen als mehr oder weniger ethisch bezeichnet werden?
- Welche Werte bringen die Beteiligten ausdrücklich oder implizit in diese Situation ein? Welche «dahinter liegenden» Werte könnte man auch noch vermuten?
- Welche Werte wären Ihnen angesichts dieser Situation bzw. in der einen oder anderen Rolle besonders wichtig?
- Erkennen Sie mehr oder weniger ethische Entscheidungen oder Massnahmen, die im Laufe der Zeit aufgrund unglücklicher Ereignisse und infolge zunehmenden Verkehrsaufkommens überhaupt erst zu dieser aktuellen Konfliktsituation geführt haben?
- Welche Fragen stellen Sie sich (auch noch) im Zusammenhang mit dieser Situation?
- Was löst der Sachverhalt bei Ihnen aus, dass es sich bei dem fehlbaren Fussgänger um einen Mann handelt und bei der Gesetzeshüterin um eine Frau? Welche Assoziationen könnten bei Ihnen auftauchen, wenn die Rollen vertauscht wären?
- Welche Zusammenhänge, Gemeinsamkeiten oder Unterschiede erkennen Sie zwischen diesem Fallbeispiel und der Corona-Pandemie bzw. damit verbundenen Massnahmen sowie unterschiedlichen Meinungen und Verhalten von Bürger:innen?
- Unter welchen Umständen sollten Ihrer Meinung nach welche Gesetze, Rechte und Pflichten Anwendung finden – und wer soll das entscheiden (können)?
- Was bedeuten Ihre Erkenntnisse aus dieser Reflexion für Ihre Beratungspraxis?
Wir laden Sie ein, Ihre Erkenntnisse hier im Blog auszutauschen oder auch einen eigenen Blogbeitrag zu verfassen, um den Diskurs zu stimulieren und voneinander zu lernen. Bitte beachten Sie dabei die Vorgaben im Briefing für Blogbeiträge. Wir danken schon im Voraus für Ihren Beitrag!
Ein Beitrag von Hans-Ueli Schlumpf
Vorstandsmitglied bso, Ressort Marketing & Kommunikation sowie Internationales & Partnerverbände